Hören wir, dass jemand fremdgegangen ist, ist unsere unwillkürliche Reaktion zumeist eine Verurteilung: Das macht man nicht. Meist denken wir, dass die Beziehung nun sowieso zum Scheitern verurteilt ist und dass keine Liebe mehr im Spiel sein kann. Das ist so aber zu kurz gedacht: Fremdgehen und Liebe schließen sich gegenseitig nicht zwingend aus.
Fremdgehen trotz Liebe ist Interessenabwägung
Wenn man Menschen fragt, ob sie jemanden betrügen würden, den sie lieben, lautet bei den meisten Leuten die Antwort: Nein. In unseren Köpfen ist verankert, dass „man das nicht macht“. Theoretisch finden wir diesen Gedanken auch furchtbar. Praktisch allerdings, in bestimmten Situationen und unter besonderen Voraussetzungen, kann es durchaus Gründe geben, es doch zu tun. Ein klassischer Moment, in dem man seinen engsten Vertrauten gegenüber beteuert, dass das ja was anderes ist – also, dass die Gründe wirklich gut oder gar zwingend sind.
Die Sache ist die: Es ist nichts anderes. Die Zahl derer, die ohne einen Gedanken an ihre Liebe zu verschwenden, allein der Gelegenheit wegen fremdgehen, ist verschwindend gering. Dem One-Night-Stand oder der Affäre liegt immer ein Bedürfnis zugrunde. Das kann sexueller Natur sein, muss es aber nicht. In dem Moment, in dem du dich trotz Beziehung flüchtig oder für länger auf eine andere Person einlässt, ist der Moment, indem du (bewusst oder unbewusst) deine Bedürfnisse höher priorisierst als die Person, die du liebst. Das ist nicht unnormal.
Gründe für Betrug trotz Liebe
Du kannst deinen Schatz lieben und dennoch das Bedürfnis nach fremder Nähe haben. Einige Gründe werden zum Beispiel in Paartherapien und Studien immer wieder genannt.
Schwelende Wut oder Rachegelüste
Viele Menschen, die von ihrer Partnerin oder ihrem Partner betrogen worden sind, zahlen es ihr oder ihm irgendwann mit gleicher Münze heim. Die Wut und die Verletzung sind umso größer, je größer die Liebe ist. Der Drang danach, der anderen Person zu zeigen, wie sehr man gelitten hat, kann sehr stark sein. Frauen geben diesen Grund häufiger als Männer an (mehr dazu findest du in unserem Beitrag Warum gehen Frauen fremd?).
Sexuelle Unzufriedenheit
Damit zwei Menschen gleichermaßen über einen langen Zeitraum hinweg in ihrer Beziehung sexuell auf ihre Kosten kommen, muss die Chemie wirklich bemerkenswert gut stimmen. Bei den meisten Paaren gibt es hinsichtlich der sexuellen Bedürfnisse ein mehr oder weniger starkes Ungleichgewicht. Das kann ganz unterschiedlich aussehen:
- Manche Leute wünschen sich mehr Sex als die Partnerin oder der Partner.
- Manche wünschen sich eine andere Art von Sex (etwa, wenn eine Person mit Quickies ohne langes Drumherum vollkommen zufrieden ist und eine sich eher ein langes, ausgiebiges Liebesspiel wünscht).
- Einige Personen haben Kinks, die sie sich nicht zu offenbaren trauen oder die die Partnerin bzw. der Partner nicht teilt oder ablehnt.
- Manche Menschen sehnen sich nach Abwechslung und sexueller Aufregung.
Es kann viele Gründe geben, weshalb es im Bett nicht zur Zufriedenheit beider Beteiligten klappt und zu einem Libidoverlust kommt. Gesellschaftlich anerkannt ist der Standpunkt, dass Sex nicht alles ist und andere Dinge in der Beziehung weit wichtiger sind. Menschen, die unter diesem Ungleichgewicht leiden, wissen daher oft nicht genau, wie sie damit umgehen sollen. Männer führen diesen Grund fürs Fremdgehen häufiger ins Feld als Frauen (vergleiche auch unseren Beitrag Warum gehen Männer fremd?).
Mangelnder Selbstwert in der Beziehung
Dass du jemanden liebst, heißt nicht zwingend, dass du auch davon überzeugt bist, dass du ebenso geliebt wirst. Viele Menschen leiden gerade in längeren Beziehungen unter einem geringen Selbstwertgefühl, weil sie sich als gegeben hingenommen oder nicht richtig wahrgenommen fühlen. Mögliche Ausprägungen sind die folgenden:
- In der Beziehung gibt es wenig Nähe, physisch wie psychisch.
- Sorgen oder Ängste werden in der Partnerschaft nicht wahrgenommen.
- Es gibt viel Kritik vonseiten der Partnerin oder des Partners, Lob hingegen wird nur selten verteilt.
- Es kommt zu abwertenden Vergleichen mit anderen („Warum kannst du nicht sein wie XY?“).
- Wünsche und Sehnsüchte werden in der Beziehung abgetan.
- Die betroffene Person ist sich der Gefühle der Partnerin oder des Partners unsicher und fragt sich, ob sie überhaupt liebenswert ist oder was mit ihr falsch läuft.
Mangelnder Selbstwert und Unsicherheit sind starke Antriebe dafür, sich Anerkennung und Zuwendung an anderer Stelle zu suchen – auch und gerade, wenn Liebe im Spiel ist: Die Bewertung der Person, die wir lieben, ist uns wichtiger als die anderer Menschen. Suggeriert dieser ganz spezielle Mensch uns, dass wir Fehler haben, uns mal etwas mehr anstrengen sollten oder im Vergleich mit anderen Personen schlechter abschneiden, trifft das unser Selbstbewusstsein hart. Anderswo Trost zu suchen, ist kein abwegiges Verhalten.
Info: Sind dies die Gründe für den Betrug, handelt es sich meist um eine emotionale Affäre – hier braucht eher die Seele Heilung als der Körper Befriedigung (obwohl das natürlich auch dazukommen kann).
Autonomie und Befreiung
Vor allem Menschen, die bis zu einem gewissen Grad an Bindungsangst leiden, fühlen sich in einer Beziehung oft eingeschränkt und in ihrer Freiheit beschnitten. Letzten Endes stimmt das ja auch: In einer monogamen Beziehung verzichtet man in gegenseitiger Absprache auf die Freiheit, mit anderen Leuten Sex zu haben. Für viele Menschen ist das im Tausch gegen Zusammengehörigkeit, Nähe, Liebe und Loyalität ein akzeptables Geschäft.
Für Menschen mit Bindungsangst ist das hingegen komplizierter. Oft geht es ihnen nicht um den Sex an sich, sondern darum, die Grenzen zu überschreiten, die die Beziehung mit sich bringt. Das Gefühl von Zusammengehörigkeit bietet ihnen weniger Sicherheit, als dass es für sie erstickend wirkt. Dass sie gleichzeitig Liebe für die Partnerin oder den Partner spüren, macht es noch schwieriger: Die Emotion hält sie im gefühlten „Gefängnis“ der Beziehung.
Geht ein Mensch mit Bindungsangst fremd, ist das Ziel zumindest teilweise ein Wiedererlangen der verloren geglaubten Autonomie. Die Person will sich ihrer selbst wieder bewusst und sicher sein, will sich lebendig und unabhängig fühlen. Das Bedürfnis danach ist stärker als der Wunsch, die geliebte Person nicht zu verletzen – auch, wenn wegen des Betrugs Verlustangst besteht.
Tipp: Für manche Personen mit Bindungsangst kann sich eine offene Beziehung anbieten bzw. Polyamorie das richtige Modell sein. Allerdings ist für die Vermeidung von Verlustangst und Eifersucht viel offene Kommunikation unter den Beteiligten nötig.
Betrug trotz Liebe wegen unbemerkter oder nicht kommunizierter Probleme
Wenn du jemanden betrügst, den du liebst, hat das irgendeinen Grund (ob es ein „guter“ Grund ist, spielt keine Rolle). Vielleicht bist du aber im Alltag so beschäftigt, dass du dir die Probleme, die in der Beziehung bestehen, gar nicht richtig klar machst oder sie nicht wahrnimmst. Manche Menschen, die eine geliebte Person betrügen, sind selbst völlig fassungslos darüber: Da braucht es nichts anderes als einen feuchtfröhlichen Abend und schon stehen sie vor vollkommen grundsätzlichen Fragen, was ihre Beziehung betrifft!
Es kann aber auch sein, dass du selbst sehr genau weißt, dass dich etwas unzufrieden macht. Allein es auszusprechen, es zu benennen, traust du dich nicht: Das könnte schlafende Hunde wecken – was, wenn plötzlich die ganze Beziehung infrage gestellt wird? Dummerweise wird das Problem sich aber nicht von selbst erledigen. Die andere Person muss wissen, dass es besteht. Andernfalls wird sie nichts ändern können.
Fremdgehen trotz Liebe aus Frustration
Vielleicht hast du mit deiner Partnerin oder deinem Partner auch schon darüber gesprochen, was dir fehlt oder was dich bedrückt. Es gibt viele mögliche Reaktionen auf eine solche Eröffnung:
- Du wirst ernst genommen.
- Ihr sprecht über mögliche Wege, um die Situation für euch beide zu verbessern.
- Deine Partnerin bzw. dein Partner fühlt sich angegriffen und kontert mit Gegenkritik.
- Dein Schatz wischt deine Eröffnungen einfach beiseite.
- Die von dir benannten Probleme werden nicht als solche anerkannt.
- Deine Partnerin oder dein Partner sieht keinen Handlungsbedarf.
- Der Handlungsbedarf wird erkannt, aber es scheint keinen gangbaren Weg zu geben, euer beider Bedürfnisse zu befriedigen.
Das Schwierige ist, dass die Frustration steigt, wenn du das Problem angesprochen hast und sich nichts ändert. Oft spielt zunächst eine gewisse Verweigerungshaltung eine Rolle: Bislang war doch alles gut, warum ist es das nicht mehr? Dass für dich offenbar nicht „alles gut“ war, wird hier in der ersten Reaktion übergangen. Das Gefühl, einen wirklich guten Grund für einen Seitensprung oder eine Affäre zu haben, kann dadurch wachsen: Schließlich scheint deine Partnerin bzw. dein Partner deine Gefühle ja nicht ernst zu nehmen.
So einfach ist das natürlich nicht. Oft liegen der Verweigerung, die Probleme als solche anzuerkennen, schlicht Angst und eine gewisse Verzagtheit zugrunde: Wenn man sie anerkennt, besteht Handlungsbedarf. Das ist anstrengend und erfordert Einsatz, von dem deine Liebste oder dein Liebster nicht genau weiß, ob er sich lohnen wird. Es muss sich erst zeigen, ob ihr eure Differenzen überbrücken könnt.