„Fremdgehen als Chance begreifen“ oder „Warum Fremdgehen für die Beziehung gut sein kann“ – diese Überschriften finden sich immer wieder. Sie stehen über Ratgebern und über Interviews mit Beziehungscoaches. Und sie verkürzen ein hochkomplexes Thema sehr. Wir schauen uns das genauer an.
Fremdgehen als Chance für die Beziehung?
In den meisten Fällen beziehen sich die genannten Beiträge darauf, dass ein Fremdgehen nicht ohne Grund geschieht (und zwar unabhängig davon, ob man jemanden liebt, in einer glücklichen Beziehung ist oder in einer Ehe untreu wird). One-Night-Stand oder Affäre: Alles kann vorkommen und für alles gibt es einen Auslöser.
Hier setzt der Gedanke an, der sich hinter der Idee verbirgt, dass Fremdgehen gut sein kann – also für die bestehende Beziehung. Dafür müssen allerdings einige Voraussetzungen erfüllt sein:
- Beide Partner müssen imstande und willens sein, über den Betrug an sich hinauszublicken.
- Sie müssen Zauber, schlechtes Gewissen, Verliebtheit, Verletztheit, Misstrauen und Liebeskummer beiseiteschieben und sich darauf konzentrieren können, was diese Ausnahmesituation für sie offenlegt.
- Sie müssen gemeinsam herausfinden, was es war, das die fremdgegangene Person dazu veranlasst hat, das Versprechen der monogamen Beziehung zu brechen.
- Gleichzeitig sollten sie Ihre Partnerschaft von allen Seiten beleuchten und die Krise zum Anlass nehmen, alle unterschiedlichen Bedürfnisse offen anzusprechen.
Stellt sich nun heraus, dass die physischen und psychischen Bedürfnisse so weit miteinander vereinbar sind, dass beide sich auf eine gemeinsame Vorgehensweise einigen und die Beziehung (wieder) priorisieren können, kann es sein, dass sie als Paar gestärkt aus der Situation hervorgehen können. Das gilt allerdings nur, wenn sie sich genügend Zeit lassen: Vertrauen wieder aufzubauen, kann Jahre dauern.
„Wenn beide Beteiligten die innere Einstellung und Bereitschaft haben, dass sie um das Fortbestehen der Beziehung kämpfen möchten, kann der Betrug ein echter Wendepunkt sein, der schließlich viel Gutes in der Beziehung bewirkt“, erklärt Beziehungscoach Aino Simon im Interview mit der „Brigitte“.
Wie Fremdgehen auch ausgehen kann
Du hast bereits gesehen, dass ziemlich viele Punkte erfüllt sein müssen, damit Fremdgehen gut sein kann, was die Beziehung betrifft. Du solltest also nicht mit dem Hintergedanken, dass du eure Beziehung retten möchtest, einen Seitensprung unternehmen. Tatsächlich passieren nach dem Fremdgehen nämlich häufig auch ganz andere Dinge:
- Manchmal stellt die fremdgehende Person fest, dass sie in der Beziehung schon lange unglücklich und eingeschränkt war und die Trennung wünscht.
- In vielen Fällen nimmt die betrogene Partei schweren Schaden, was ihren Selbstwert und ihr Vertrauen in Menschen betrifft: Ihr Weltbild kann in Scherben gehen, und das Reparieren gelingt nicht allen Betroffenen.
- Wer es nicht schafft, das Fremdgehen zu verzeihen und das Misstrauen zu überwinden, beendet die Beziehung unter Schmerzen. Liebeskummer ist für beide die Folge, auf Seiten der betrügenden Person kommen Selbstvorwürfe hinzu.
Auf jeden Fall beendet die Untreue den bisherigen Zustand der Beziehung. Das gilt sogar für heimliches Fremdgehen, denn es verändert die Person, die den Seitensprung oder die Affäre hat: Man bricht nicht einfach Regeln, die zu den Grundfesten des eigenen Lebens gehören, ohne davon berührt zu werden.
Kann Fremdgehen gut sein, wenn man der Beziehung nichts wegnimmt?
In manchen Beziehungen ist klar, dass es ein starkes Ungleichgewicht in den Bedürfnissen gibt. Manche Menschen benötigen viel physische Nähe und/oder Sex, andere bleiben lieber auf Abstand und beschränken Berührungen auf bestimmte Situationen. Solche Unterschiede zu überbrücken bzw. einen Kompromiss zu finden, ist schwierig.
Manche Menschen, die mehr Sex möchten als ihre Partnerin bzw. ihr Partner, suchen diesen in One-Night-Stands oder einem Verhältnis. Dabei muss es sich nicht um eine emotionale Affäre handeln – es reicht, wenn die körperlichen Bedürfnisse gestillt werden. Dadurch ist die fremdgehende Person ausgeglichener und kann sich in anderen Bereichen der Beziehung besser und entspannter einbringen. Die betrogene Person fühlt sich weniger oft genötigt, Sex zuzustimmen, wenn sie eigentlich gar nicht möchte. Kann solches Fremdgehen gut sein für die Beziehung?
Dieser Punkt wird von fremdgehenden Personen oft angeführt, aber er enthält einen Denkfehler: Wer heimlich untreu wird, trifft für die Partnerin bzw. den Partner eine Entscheidung mit, zu der sie bzw. er auch etwas zu sagen hätte. Es ist Bevormundung („ich weiß schon, was gut für dich ist“) und es ist respektlos.
Tipp: Um zu überprüfen, ob eine Verhaltensweise in Ordnung ist, solltest du dich immer fragen, wie du empfinden würdest, wenn die Rollen vertauscht wären.
Mit Absprache ist es kein Fremdgehen mehr
Manche Paare sprechen offen über ihre unterschiedlichen Bedürfnisse und finden heraus, wie sie damit umgehen können. Manchmal findet man keinen Kompromiss innerhalb der Beziehung – niemand sollte sich schließlich zu Sex überwinden müssen. Einige Paare entscheiden sich an diesem Punkt für eine Trennung. Andere stellen fest, dass ihnen ihre Beziehung so wichtig ist, dass sie eine andere Umgangsweise mit der Situation finden müssen: Sie entscheiden sich daher, ihre Beziehung zu öffnen. Auf diese Weise kann die Person, die mehr Sex haben möchte, ihre Bedürfnisse befriedigen, ohne fremdgehen zu müssen.
Auch das kann für die Partnerin bzw. den Partner eine schwierige Umgewöhnung sein und mit Verlustangst und Eifersucht einhergehen. Dennoch belastet die gemeinsam getroffene Entscheidung die Beziehung in den meisten Fällen weniger, als langfristige Heimlichkeit es tut – und der damit einhergehende Respektverlust der fremdgehenden Person gegenüber der Partnerin bzw. dem Partner. Der bleibt nämlich nicht aus, wenn man Entscheidungen für beide trifft, ohne die andere Person einzubeziehen.